1. OG
Modellinterieurs aus dem Jugendstil, ikonische Möbel der Moderne wie etwa die Frankfurter Küche und ein besonderes Hamburger Highlight, die Ganzkörper-Tanzmasken von Lavinia Schulz und Walter Holdt. Parallel dazu eine Fläche für wechselnde Präsentation von Modeentwürfen. Im Erweiterungsbau, dem Schümannflügel, finden Sie Tasteninstrumente der Sammlung Beurmann. Neben Flächen für Sonderausstellungen zeigt ein weiterer Bereich Exponate des islamischen und ostasiatischen Kulturraums – von den Vorläufern bis zu zeitgenössischen Arbeiten.
Lieblingsobjekte
Schmuckanhänger „Winterlandschaft“
Wenn die Tage kürzer werden, die Temperaturen sinken und der erste Schnee fällt, erstarrt die Welt. Der kalte, tiefblaue See kontrastiert mit der unter einem weißen Schleier liegenden Landschaft, die Bäume und kahlen Stämme in der Nähe mit dem hoch aufragenden Berg in der Ferne. Nichts regt sich mehr. Die Geräusche verstummen. Die Natur hält den Atem an. Meisterhaft hat der französische Schmuck- und Glaskünstler René Lalique (1860–1945) diese Stimmung in seinem kleinen Anhänger eingefangen. Der zarte goldene Rahmen mit feinen Blättern am oberen und unteren Ende gibt den Blick in eine andere Welt frei. Und dennoch vermag er das Bild nicht zu kontrollieren. Links bricht eine verschneite Tanne aus dem Bildfeld heraus. Fast nebensächlich wirkt der blaue Saphir am unteren Ende, und doch greift er die Farbe des Wintersees auf. Neben der Faszination für das Objekt selbst, erinnert mich der Anhänger an eine Reise nach Cleveland zu einer großartigen Ausstellung, die den Künstlern René Lalique, Louis C. Tiffany und Peter Carl Fabergé gewidmet war. Hier wurden die bei der Pariser Weltausstellung im Jahr 1900 gezeigten Objekte – soweit möglich – wieder zusammengeführt. Dazu zählte auch dieser um 1899 entstandene Anhänger. Wahrscheinlich handelt es sich um den einzigen bis heute ungebrochenen Glasemaille-Anhänger von René Lalique – ein zauberhaftes Stück!
Dr. Frank Hildebrandt, Kurator, Leitung Sammlung Antike
Lüsterfliese, Kashan
Letzten Herbst begleitete mich Osayd als Schülerpraktikant bei der Arbeit. Während wir gemeinsam durch die Ausstellung der sogenannten „Islamischen Kunst“ gingen, zeigte ich ihm eines meiner Lieblingsobjekte: sternförmige Fliesen aus Kashan, die mit geometrischen Mustern und Vögeln verziert sind, umrahmt von Koransuren. Einst schmückten sie einen Schrein in Natanz und hängen heute im weißen Raum des Museums. Auf einigen der Fliesen sind die Köpfe der Vögel ausgekratzt. Ich erklärte Osayd, dass ich nicht nachvollziehen kann, warum jemand die Darstellung der Vögel als unangemessen empfunden hat. Osayd dachte einen Moment nach und sagte dann, dass im Koran Engel als geflügelte Wesen beschrieben werden. Er vermutete, dass die Person geglaubt haben könnte, dass es sich bei den Vögeln um Engel handelt. Seine Erklärung überraschte mich. Als Kunsthistorikerin sind mir Engelsdarstellungen in menschlicher Gestalt im islamisch geprägten Kulturraum bekannt. Mein Wissen hat meinen Blick auf das Objekt eingeschränkt. Wenn ich heute die Fliesen sehe, denke ich an Osayd. Momente wie diese halten Objekte und ihre Geschichten lebendig und verdeutlichen, dass ein Museum ein Ort des gemeinsamen Lernens ist.
Jasmin Holtkötter, Sammlung Ostasien und Islamische Kunst
Wandteppich / Frida Hansen
„Und es seien Lichter an der Feste des Himmels, dass sie scheinen auf die Erde. Und es geschah so.“ Die hebräische Textzeile aus dem 1. Buch Mose beschreibt jenen Moment der Schöpfungsgeschichte, als Sonne, Mond und Sterne erschaffen werden. Die Tapisserie „Melkeveien“ (Milchstraße) der norwegischen Textilkünstlerin Frida Hansen zeigt sechs weibliche Figuren in einer Prozession im dunkelblauen Nachthimmel. Sie tragen einen zarten Stoff über ihren Köpfen, sie sind verknüpft und verbunden wie die Fäden, aus denen das 260 × 345 cm große Textil gewebt wurde. Helle Sterne begleiten sie, zerstreuen und gruppieren sich, leuchten und funkeln. Erworben wurde das Stück bei der Weltausstellung 1900 in Paris, wo Frida Hansen die goldene Medaille gewann. Neunzig Jahre später, am 24. April 1990 um 08:33 Uhr startete die NASA Raumfähre Discovery von Florida aus in den Weltraum. An Bord trug sie das Hubble-Teleskop, das in Höhe von 611 km in die Umlaufbahn der Erde freigesetzt wurde. Seither sendet das Teleskop Bilder des Weltraums zurück an unseren Planeten, darunter: Glitzernde, schillernde, fantastische Aufnahmen der Milchstraße. Ich denke an diese Fotografien, wenn ich vor dem Wandteppich von Frida Hansen stehe, den Kopf leicht in den Nacken gelegt. Was uns zu Menschen macht ist vielleicht der Wunsch, uns ein Bild zu machen. Bilder zu machen, um zu verstehen, was unbegreifbar bleibt.
Nina Lucia Groß, Wissenschaftliche Referentin der Direktorin
Toaster / Peter Behrens
Ich liebe Brot, noch mehr liebe ich geröstetes Brot. Seit einiger Zeit habe ich allerdings keinen Toaster mehr und denke oft darüber nach, ob ich einen neuen kaufen sollte. Ich würde gerne wieder warmes Brot essen, zum Beispiel am Sonntagmorgen. Teuer sind die meisten Toaster nicht, aber ich finde sie hässlich, sie nehmen viel Raum ein mit ihren Plastikgehäusen. In der Sammlung Kunstgewerbe und Design ist ein schöner Toaster aus den 1930er Jahren von Peter Behrens ausgestellt. Das Metall glänzt silbern und das ausgestanzte Muster wirkt filigran. Er ist klein, fast zart. Ich tagträume davon, dass so ein Modell den Weg in meine Küche findet und ich platzsparend und mit Stil endlich wieder toasten kann. Peter Behrens gilt als einer der ersten Industrie-Designer. In einer Zeit, in der um eine neue und zeitgemäße Art der Gestaltung industriell hergestellter Produkte gerungen wurde, hat Peter Behrens als ausgebildeter Maler nicht nur Toaster, sondern auch Gebäude, Schriften, Plakate und andere Haushaltsgegenstände entworfen. Ich frage mich, wie er heute Heißluftfritteusen, Power Mixer und elektrische Milchaufschäumer designen würde. Ich kaufe erst mal keinen neuen Toaster.
Marleen Grasse, Digitale Strategie / Projekt NEO Collections
Schachspiel / Josef Hartwig
Als leidenschaftlicher Vereinsspieler hat mich das moderne Schachspiel von Josef Hartwig bei meinem ersten Rundgang durch das MK&G sofort angezogen. Denn normalerweise finden sich nur die feinsten Bretter aus Marmor mit den prunkvollsten Figuren in einem Museum wieder. Doch die 1923/24 von Hartwig am Bauhaus in Weimar entworfenen Figuren setzen sich nur aus Würfeln und Kugeln zusammen und verzichten damit auf die kunstvollen Verzierungen klassischer Spielsteine. Die klaren, Bauhaus-typischen Formen deuten die jeweilige Art und Weise an, wie sich die Figuren auf dem Brett bewegen. Diese Reduzierung gefällt mir besonders gut und setzt den Fokus auf das in meinen Augen Wichtigste am Schach: Die Logik und Struktur des Spiels an sich. Es lassen sich sicherlich viele tolle und herrliche Geschichten rund um das „Spiel der Könige“ erzählen, doch mich faszinierte schon seitdem ich die Schachregeln lernte viel mehr die kühle, berechnende Seite. Heute ist eine Schachpartie für mich ein stundenlanges Ringen darum, wer konzentrierter bleiben, genauer analysieren und besser taktieren kann. Genau diese Idee von Schach erkenne ich in Josef Hartwigs zeitloser Interpretation wieder.
Marvin Müller, FSJ Kultur Kommunikation
Nō-Maske
Mich begeistert die Nō-Maske als Ausgangspunkt für das „cross-kulturelle Spiel“ der Objekte in der weiten Sammlung des MK&G. Hier spiegeln sich Potentiale, Brüche und Missverhältnisse im transkulturellen Austausch zwischen europäischem, ostasiatischem und islamischem Kulturraum. Nō beispielsweise ist eine Form des traditionellen japanischen Theaters, das aufgrund seiner Bewegungsstilisierungen auch als „Tanzdrama“ bezeichnet wird. Nur wenige Räume weiter den Gang hinunter, bewegt sich die als Ikone der europäischen Tanz-Avantgarde um 1900 gefeierte Loïe Fuller in Spiralen zu buntem Licht. Die Inspiration für ihren „Serpentinentanz“ fand sie u.a. in Japan und machte die von dort stammende Tänzerin Ōta Hisa durch japanisch anmutende Kompositionen hierzulande zum Star. Heute lässt sich im direkten Vergleich fragen, wieviel Exotismus und koloniales Marketing solchen Inszenierungen von Fremdheit innewohnt. Und auch: Wie umgekehrt europäische Tanzensembles vor 100 Jahren auf Bühnen in Asien reüssieren konnten und welche Spuren das in der Gegenwart hinterlassen hat?
Stephanie Regenbrecht, Wissenschaftliche Referentin der Direktorin
Schmuckkamm
Die Gestaltung des einzigartigen Steckkamms lässt mich in die Zeit des Jugendstils um 1900 eintauchen. Ich stelle mir vor, wie ich in einem zeitgenössischen Kleid an einem Schminktisch in Paris sitze und mir meine Haare zurechtmache. Der hellbraune Kamm aus Horn wirkt auf den ersten Blick sehr schlicht. Grüne Blätter ranken durch die Rundungen und die eingearbeiteten Perlen stellen kleine Beeren dar. Bestimmt hat ein Mann diesen Mistelzweig beim französischen Hersteller Vever Frères als Geschenk für seine Frau gekauft, um ihr eine Freude zu machen. Das Schmuckstück wird in der Familie weitergeben und nur bei besonderen Anlässen getragen, bis es in der Vitrine im Museum landet und nun von vielen Augen bewundert wird. So ist es auch mir im Gedächtnis geblieben, seit meinem ersten Museumsbesuch. Daher besitzt das Accessoire für mich eine magische Anziehung und ist nicht nur ein Objekt. Es ist ein handgearbeitetes Werk, das auf schlichte Art und Weise eine tiefe Verbindung zur Natur präsentiert.
Marie-Josephine Grund, Praktikantin Bildung und Vermittlung
Teeservice
Damit würde ich mir gern einmal guten Tee servieren: Entstanden in Wien um 1904 strahlt das Service, bestehend aus Kanne, Milchgießer, Dose und Tablett, noch immer eine zeitlose Eleganz aus. In seiner strengen Formgebung gehört es exemplarisch zu den besten Arbeiten der geometrischen Phase der Wiener Werkstätte. Die schwarzen Ebenholzgriffe schützen bei der Kanne nicht nur die Finger vor der Hitze, sondern bringen den mattsilbernen Glanz der Oberfläche besonders zur Geltung. Gestaltet wurde es von Josef Hoffmann (1870–1956). Der Architekt und Designer war, neben Koloman Moser, Gründungsmitglied und einer der Hauptvertreter der Wiener Werkstätte. Bekannt ist, dass Kanne und Zubehör aus dem Nachlass des österreichischen Grafikers und Malers Carl Otto Czeschka (1878–1960) stammen, der es zeitlebens benutzte. Auch er war als Gestalter an der Wiener Werkstätte tätig. Das Fehlen jeglicher Gebrauchsspuren zeugt von der Wertschätzung seines Besitzers, seinem sorgfältigen Umgang damit, aber auch von der soliden handwerklichen Ausführung des Teeservices.
Ulrike Blauth, Marketing
Tischlampe „Salome“
Form Follows Function! Der Entwurf des Bildhauers Raoul François Larche, der die amerikanische Tänzerin Loïe Fuller im Serpentintanz abbildet, verkörpert eine Symbiose von technischem Handwerk und Kunst. Beim genauen Hinschauen sieht man eine Fassung für eine Glühbirne versteckt in den oberen, sich wölbenden Gewändern der Tänzerin. Elektrizität und Ästhetik sind hier vereint in einem eindrucksvollen Stil, der die zeitgenössische Wertschätzung fließender abstrakter Linienformation und dekorativer, aber sinnorientierter Form widerspiegelt; die ätherischen Motive der Epoche des Jugendstils stehen im Kontrast zu der sich rationalisierenden Welt. Die Faszination mit diesem Stück liegt in ihrem Bezug zur Gegenwart: Der Originalfilm der in dem Ausstellungsraum zu sehen ist, zeigt die Inspiration für dieses Stück und bewirkt gleichzeitig, dass der Figur Leben eingehaucht wird. Die Silhouette der Tänzerin, der „electric fairy“ – wie sie auch genannt wurde – wurde von Larche sinnbildlich in haptischer Form und mit einer deutlichen Funktion umgesetzt.
Shana Beims, Praktikantin Sammlung Antike
Clubsessel B3 „Wassily“
Die Begegnung mit Marcel Breuers Clubsessel „Wassily“ in der Sammlung Moderne war für mich ein schöner Moment des Wiedererkennens. Bei diesem echten Bauhaus-Design-Klassiker handelt es sich um eine der ersten Fertigungen von 1927/28 und ich kannte ihn bis dahin eher in anderer Aufmachung. Dieses Exemplar sieht im Vergleich zu den Ausstellungsstücken in seinem direkten Umfeld ein wenig in die Jahre gekommen aus. Es erinnert mich mit der abstrakten Konstruktion aus einem Gestell metallener Rohre und den dazwischen als Sitzfläche und Lehnen gespannten Textilstreifen immer etwas an den Prototyp einer Erfindung. Der Sessel wirkt so, als könne man anhand dieser Version den gesamten Entstehungsprozess vom Anfertigen der Einzelteile bis zum gesamten Aufbau nachvollziehen. Die Clubsessel „Wassily“, die heute verkauft werden, setzen sich für gewöhnlich in Chrom und Leder in Szene, also etwas herausgeputzter als ihr Vorgänger. Der steht ihnen allerdings in seinem innovativen, zeitlosen und eleganten Design in nichts nach. Der Sessel verkörpert mit diesen Eigenschaften und der Reduktion auf die notwendigsten Bestandteile die zentralen Gedanken modernen Möbeldesigns und verdient sich damit, neben seinem Platz in der Sammlung, einen Platz in so manchem Design-affinen Wohnzimmer.
Hannah Neufang, Besucher*innenservice
Treppe von Bruno Paul
Tatsächlich kenne ich die holzvertäfelte Treppe seit meiner Kindheit. Damals war sie für das Museumspublikum begehbar und ich durfte die knarrenden Holzstufen hoch und runter springen. Du betrittst einen nach altem Holz riechenden, verdunkelten Raum – wie eine Zeitkapsel – und landest im Hamburg der 1920er Jahre, im Zuhause von Gustav Fraenkel, Inhaber einer Sächsischen Tuchweberei. Der Architekt und Gestalter Bruno Paul verortete die vertäfelte Treppe auf die Gartenseite der Villa im Krumdalsweg. Verzierungen in Form von Laubwerk, Ranken und Zweigen schlängeln sich das schwere Geländer empor. Aber wie gelangte dieses eindrucksvolle Werk in das MK&G? Die Geschichte der Sammlungsobjekte und wie sie ihren Weg zu uns fi nden, überrascht und begeistert mich immer wieder: Im Zuge eines Umbaus der Villa und durch Vermittlung des Denkmalschutzamtes gelangte die Treppe samt Holzvertäfelung 1964 ins MK&G. Im Museum angekommen blieb sie rund 15 Jahre verborgen und wurde 1978/79 originalgetreu von Restaurator*innen, an dem Ort an dem sie sich noch heute befi ndet, rekonstruiert. Ursprünglich verband die Treppe die Abteilungen Jugendstil im 1. und Moderne im 2. Stockwerk des Museums. Damit die Treppe dem Publikum noch lange erhalten bleibt, ist der Durchgang mittlerweile geschlossen.
Vivian Michalski, Kuratorin, Ausstellungen und Projekte
Japanisches Teehaus
Mein Lieblingsobjekt, die „Hütte der reinen Kiefer“ fiel mir direkt ins Auge, als ich zu Beginn meiner Zeit hier am MK&G die Sammlung Ostasien erkundete. Das Teehaus Shoseian wurde im Jahr 1978 aus Anlass des 100jährigen Jubiläums des Museums von der Urasenke Foundation Kyoto gestiftet. Ich war überrascht. Vor einigen Jahren hatte ich mich selbst auf eine Reise nach Japan begeben und verpasste leider auf Grund meiner begrenzten Zeit in Kyoto die berühmte Teezeremonie vor Ort. Bei meiner Abreise verabschiedete ich mich fürs Erste von dem Gedanken einmal eine solche Zeremonie miterleben zu können. Ehe ich mich versah, fing dann auch schon mein FSJ am MK&G an, und siehe da: ein richtiges Teehaus, wie in Kyoto, stand mir gegenüber. Wie ich dann herausfand, ist die schlichte, aber doch elegante Hütte nicht nur ein Ausstellungsobjekt zum Bestaunen, sondern auch ein Ort, an dem die Teezeremonie nach den Regeln der japanischen Tradition durchgeführt wird. Jetzt bietet sich mir die perfekte Gelegenheit, das verpasste Erlebnis nachzuholen, weshalb ich mir sicher bin, dass ich schon ganz bald in der Sammlung Ostasien sitze und eine wohltuende Schale Tee genieße.
Swantje Neumann, FSJ Kultur Kommunikation
Zuckerdose
Die Zuckerdose aus dem Mokkaservice „Melone“ macht deutlich, wie das Service zu seinem Namen gekommen ist. Die gelben Streifen und der kleine Stiel-Griff auf dem Deckel zeigen die Anlehnung des Designs an eine Melone. Der Naturbezug und das einfache Design sind exemplarisch für den Jugendstil. Kunst soll in funktionalen Objekten Platz im Alltag finden; der Naturbezug und die langsame Produktion dokumentieren die Abneigung der Industrialisierung. Hergestellt wird das Service 1929, es könnte sich aber auch heute verkaufen. Denn popkulturelle Ästhetiken wie Cottagecore bewerben idyllisches Landleben, die Anhänger*innen wollen wieder mehr selbst machen und nachhaltiger leben. Dabei spielen Blumen und Früchte eine große Rolle in der Mode und im Interieur. Cottagecore versteht sich als Gegenbewegung zu kapitalistischer Produktivität und digitaler Präsenz und ähnelt so den Vorstellungen des Jugendstils. Für mich scheint das Mokkaservice Melone das perfekte Geschirr, um auf einer Wiese zu picknicken und dem Alltag bei Törtchen und Tee zu entfliehen – egal ob jetzt oder im Jugendstil.
Merit Meurers, Praktikantin Bildung und Vermittlung
Statuette der „Jahreszeiten“ (Frühling)
Tarte au citron! Das zartgelbe französische Zitronentörtchen ist das erste, woran ich beim Anblick der eleganten Dame aus Steingut denken muss. Ob sie wohl auch gerade davon träumt? Als Verkörperung des Frühlings steht sie in der Vitrine etwas schüchtern neben ihren Schwestern Sommer, Herbst und Winter, deren Kleider jeweils in einer anderen Farbe um die Aufmerksamkeit buhlen. Obwohl ihr Look mit Haube und Fächer an das frühe 19. Jahrhundert erinnert, stammt die Figur aus der Blütezeit der Wiener Werkstätte rund einhundert Jahre später. Die reduzierte Farbwahl mit einem Hauch – oder eher Tupfen – von Schwarz deutet auf die grafische Gestaltungskraft der Zeit. Die vereinfachte, aber nicht abstrakte Form, scheinbar auf der Kippe zum Kitsch, gefällt mir. Ihre Schöpferin, die Bildhauerin Johanna Meier- Michel, zeigte sie vielleicht sogar in der Schau „Die Kunst der Frau“ 1910 in der Wiener Secession. Für diese erste Ausstellung des österreichischen Bundes weiblicher Kunstschaffenden entwarf Meier-Michel das blumig-sprühende Werbeplakat, das Sie sich in der MK&G Sammlung Online anschauen sollten. Dazu eine Tarte au citron – gleich in unserer Nähe im Café der Zentralbibliothek?
Friederike Fankhänel, Bildung und Vermittlung
Airmail Dress
„The medium is the message“ – Marshall MacLuhans Satz ist in Hussein Chalayans „Airmail Dress“ Kleid geworden. Das 1993 entworfene, zusammenfaltbare und versendbare Kleid bringt Kommunikation und Migration ins Bild, zwei Themen, die Chalayan beschäftigen, und bezeichnet Ab- und Anwesenheit gleichermaßen. An der Seitennaht und am Saum des Kleides sind Parallelogramme in blau-rotem Wechsel aufgedruckt, wie sie Luftpostbriefumschläge kennzeichnen. In seiner Flatterhaftigkeit, Schwerelosigkeit und Körperlosigkeit könnte das Kleid die Dienstkleidung althergebrachter Luftpostbriefträger sein, es könnte ein Kleidungsstück von Engeln sein. Engel sind Zwischenwesen. Und entsprechend bewegen sie sich auch: Als „Gottesvögel“, wie Dante schreibt, können sie fliegen. Engel sind gleichermaßen Boten und Botschaften, sie sind Mittel- und Mittlerexistenzen, zwischen Göttlichem und Menschlichem, zwischen Himmel und Erde. Ihre Fähigkeit zu fliegen macht die ungeheuer säkularisierungsresistenten Wesen auch zu Traum und Ideal des Menschen: „Wer fliegt, entflieht – und rebelliert gegen den Zwang zum Horizont, zur Schwerkraft, zur Erniedrigung, zum Boden“, hält Thomas Macho in seinem Text „Himmlisches Geflügel“ fest.
Dr. Caroline Schröder, Kuratorin, Leitung der Sammlung Moderne
Piccolotrompete
Was wie eine ganz normale Trompete aussieht, ist in Wirklichkeit eine Piccolotrompete! Wie die Bezeichnung „Piccolo“ – also italienisch „klein“ – besagt, handelt es sich dabei um eine Art Miniaturtrompete mit halbierter Rohrlänge. Sie wird entwickelt, weil die hohen Töne in der Musik Johann Sebastian Bachs und seiner Zeitgenossen – die in der Barockzeit auf Naturtrompeten in der Technik des „Clarinblasens“ ausgeführt wurden – auf modernen Ventiltrompeten nicht mehr gespielt werden können. In den 1950er Jahren verhilft der Trompetenvirtuose Adolf Scherbaum mit seiner überragenden Technik der Piccolotrompete zum Durchbruch und wird ihr unangefochtener Meister. Das Brandenburgische Konzert ist dabei sein Bravourstück, das er über 400 Mal in der ganzen Welt aufführt und nicht weniger als 15 Mal für die Schallplatte aufnimmt. Zusammen mit dem Hamburger Instrumentenbauer Wilhelm Leistner entwirft Scherbaum diese „Mogeltrompete“, bei der Blindbögen eine normale Baugröße vortäuschen. Scheinbar wird dadurch das Unmögliche möglich: Bachsche Höhen auf einer ganz normalen Trompete!
Olaf Kirsch, Kurator, Leitung Sammlung Musikinstrumente
Schauraum Wiener Werkstätte
Praktisch, quadratisch, gut: Hätte nicht ein Schokoladenhersteller diesen Werbespruch gewählt, er wäre wie geschaffen für die Objekte der Wiener Werkstätte (1903 gegründet). Denn einer ihrer Gründungsmitglieder, Josef Hoffmann, hat das mit den Quadraten sprichwörtlich auf die Spitze getrieben. In unserem ersten Ausstellungsraum zum Jugendstil ist dieses Gestaltungsprinzip konsequent durchgezogen: Vom Boden mit quadratischen Fliesen in Schwarz-Weiß, über das Mobiliar mit quadratischen Details bis hin zu neudeutsch als Tableware bezeichneten Servicebestandteilen, die durch ein zeitlos modern anmutendes Gittermuster ins Auge fallen. Hintergrund dieses minimalistischen Designs ist die Forderung Hofmanns und seiner Mitstreiter, alle Gegenstände des täglichen Gebrauchs sollten schön gestaltet sein und zueinander passen. Handwerkern gaben sie einen Leitsatz an die Hand: „Lieber zehn Tage an einem Gegenstand arbeiten, als zehn Gegenstände an einem Tag produzieren!“. Dem Architekten und Gestalter Hoffmann brachte die formale Vorliebe ganz nebenbei noch den Spitznamen „Quadratl-Hoffmann“ ein. Zu Unrecht: Denn Hoffmann konnte auch anders – wie die dekorative Opulenz des Brüsseler Palais Stoclet zeigt.
Dr. Manuela van Rossem, Bildung und Vermittlung
Kanne in Flaschenkürbisform
Die Kanne in Flaschenkürbisform, erworben in der Zeit des Gründungsdirektors Justus Brinckmann, ist das Highlight der Korea-Sammlung des MK&G. Die Seladon- Glasur – benannt nach dem meergrün gekleideten Helden Céladon des Romans L’Astrée (1610) von Honoré d’Urfe (1567–1625) – wurde in China erfunden und in Korea perfektioniert. Die grünen Glasuren der Goryeo-Zeit (918–1392) ahmen zunächst chinesische Formen und Dekore nach. Ab dem 12. Jahrhundert entwickelt sich eine eigene koreanische Formensprache und Ästhetik. Naturnah wie hier in Form eines Flaschenkürbisses. Das Besondere an dieser Kanne? Die Malereien unter der Glasur in Kupferrot. Die Kontrolle des Kupferpigments gilt als eine der größten technischen Herausforderungen in der Herstellung von Keramik. Einzeln konturiert erheben sich die Blätter des Lotos über den Körper der Kanne. Selbst aus den tiefsten Sümpfen wächst der Lotos wunderschön empor. Er symbolisiert darum im Buddhismus die Reinheit des Geistes. Als eine von weltweit nur drei Exemplaren ist die Kanne auch deshalb ein Must-see!
Maria Sobotka, Volontärin Sammlung Ostasien